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Der obere Raum

Beim Eintritte fällt der Blick zunächst auf die Holzskulptur auf dem Fensterbrett, den Christopherus. Rika Unger hat dieses Motiv mehrfach gestaltet, da sie in dieser Legendengestalt die Grundsituationen des gläubigen Menschen sah: der Mensch trägt hier nicht wie in vielen anderen Christopherusdarstellungen das Kind, sondern den Christus, dem sich der Mensch dienend verpflichtet. Rechts neben der Holzskulptur hängen vier Monorisse (1, 6, 7, 8), die einen thematischen Zusammenhang haben:

Nr. 1 - der Mensch zwischen
          Aussichtslosigkeit und Hoffnung
Nr. 6 - die Hände des Pilatus
Nr. 7 - das Leiden, die Dornenkrone
Nr. 8 - Golgatha

In allen Monorissen ist das gerissene, schwarze Papier Symbol für die Gebrechlichkeit unserer Wirklichkeit, die Verflechtungen der gerissenen Streifen Symbol für die Vielschichtigkeit menschlichen Lebens. Der weiße Anriss, der beim Zerreißen des schwarzen Papiers entsteht, war für Rika Unger Symbol für eine neue Sichtweise, die bei der Zerstörung alter und bei dem Aufbau neuer Strukturen entsteht. Der Monoriss hat seinen Ursprung also in einem doppelten Vorgang: dem Zerreißen, der Zerstörung und dem neu Verflechten, Aufbauen. (Vgl. auch die Erläuterungen von Rika Unger im Eingangsbereich.)

Den nächsten Monoriss Nr. 68 könnte man "das Gesicht des Erbarmens und des Mitleidens" nennen. Neben den Verflechtungen des schwarzen Papiers tauchen Farben aus dem rot - blau - violetten Bereich auf, zeichenhaft auf Liebe und Mitleiden hinweisend.

Bei den beiden nächsten Monorissen Nr. 9 und Nr. 48 ist die Farbe Weiß ein entscheidendes Gestaltungselement. Weiß enthält alle Farben und steht hier für die Verwandlungskraft von Ostern. Der kleine Monoriss greift diese Thematik in seiner Farbigkeit auf: aus den dunklen Strukturen leuchtet ein strahlendes Gelb hervor.

Die folgenden Monorisse (Nr. 99, 97, 75, 64, 67, 74) haben neben der Grundstruktur aus den Verflechtungen des gerissenen, schwarzen Papiers gemeinsam, dass die Künstlerin mit intensiven Farbabstufungen gearbeitet hat; es sind in der Regel keine reinen Farben, sondern verhüllte Farben (d.h. mit Grau gemischt), deren unterschiedlicher Grauanteil eine Tiefenwirkung erzeugt.

"Lichtblick im Verhüllungsbereich" hat Rika Unger diese Art der Monorisse genannt, wobei sie ausdrücken wollte, dass die Wirklichkeit für eine andere Dimension gleichsam durchsichtig werden kann. Dem Betrachter lassen diese Bilder, in denen zum Teil     nur Andeutungen von Gegenständlichkeit sind, die Freiheit der eigenen Assoziation und Vorstellungskraft. Bewusst hat Rika Unger keine Titel gesetzt. Dies gilt auch für die beiden großen Monorisse Nr. 76 und AZ rechts und links neben der Tür. Bei beiden ist das Kreuz ein zentrales Symbol, Verflechtungen und Vernetzungen werden besonders deutlich. Bei dem Monoriss Nr. 76 kann man den Eindruck haben, als durchdringe die von dem Kreuz ausgehende Farbigkeit die dunklen Strukturen, während bei dem Monoriss AZ die Helligkeit um das Kreuz sich an der weißen Kante des gerissenen Papiers widerspiegelt.

Die nächsten vier Monorisse Nr. 61, 63, 16 und 98 zeigen auf jeweils andere Weise Verwandlung und Entwicklung, wenn man auf die Beziehung der jeweils übereinander hängenden Bilder achtet, einmal durch die Farben und zum anderen durch die figürlichen Andeutungen.

Der Monoriss Nr. 36 leitet durch seine Farbigkeit zu den vier untereinander hängenden Monorissen (56, 58, 69, 60) über, die thematisch eng verbunden sind. Der oberste erinnert mir den Verflechtungen des gerissenen, schwarzen Papiers an Verschlossenheit, an etwas Geheimnisvolles. Man kann ahnen, dass sich hinter dem Schwarz etwas verbirgt, das durch die rote Farbe un das komplementäre Grün angedeutet wird.

Der Monoriss darunter zeigt aufgelockerte Strukturen, ermöglicht Durchblick auf das Helle und die rote Farbe. Der nächste lässt eine deutliche Struktur erkennen: aus grauem Papier (sog. Elefantenhaut mit undurchdringlicher Oberfläche) sind die Buchstaben I C H gerissen, verwoben in die schwarzen Strukturen vor einer orange-farbigen Fläche, die Farbe der Leidenschaft. Auf dem untersten Monoriss kann man zwei ineinander geschobene Halbkreise erkennen, die sich auch als der Buchstabe D deuten lassen und somit eine Entwicklung des ICH zum DU symbolisieren. Man kann diese vier Bilder im Sinne von Martin Bubers "dialogischem Prinzip" interpretieren, die die wahre Begegnung zwischen zwei Menschen für das eigentliche Menschsein hält. Rika Unger hat diesen Monorissen den Titel "Vom Ich zum Du" gegeben.

Um Begegnung geht es auch bei der Skulptur "Wegzeichen - ein Spiegel", diesmal mit Menschen, die mit Einschränkungen leben müssen. Die Gitterstruktur erinnert an die Begrenzungen und Schwierigkeiten, denen Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind. An einer Stelle öffnet sich dieses Gitter: zwei Menschen begegnen sich in echter Zuwendung. Das Original dieser Skulptur befindet sich neben dem Eingang des Heinrich - Piepmeyer - Hauses; es wurde Anfang der siebziger Jahre von anonymen Spendern bei Rika Unger in Auftrag gegeben, um ein Wahrzeichen für eine der ersten integrativen Einrichtungen zu setzen. Die Spender wussten, dass Rika Unger lange kunsttherapeutisch mit behinderten Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat.

Die beiden Skulpturen "Keim" und "Hiroshima" bilden einen Kontrast: Der Keim aus dem Zyklus "Jede Saat trägt Frucht" verkörpert die Kraft, die dem Neuen sowohl im kreatürlichen wie im menschlichen Bereich innewohnt. Das verbrannte Holz dagegen mit der Oberfläche, die Zeichen der Zerstörung trägt, ist Erinnerung an die vielen Zerstörungen, die auf der Erde geschehen.

© Text: Dr. Gabriele Bieling, Münster
© Fotos: Heinz Hasselberg, Steinfurt

    
  
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