Jede Kunst entspringt der Schöpferkraft des menschlichen
Geistes. Ist sie aber allein aus dieser Kraft zu deuten?
Seit je hat die Kunst auch eine Beziehung zur Wahrheit
gehabt, denn sie transzendiert das Sichtbare und macht
im Element der Materie und Formen, in Nachahmung und
Abstraktion das unsichtbare Wesen sichtbar. Ob es die
von den Griechen inspirierte Tendenz zur klassischen
Schönheit, Harmonie und ethischen Norm ist, ob im
flüchtigen Dahineilen aller Veränderungen, des Werdens
und Vergehens das Dauerhafte festgehalten wird, oder ob
der Künstler die geheimen Wirkkräfte der Welt erschaut
und vergegenwärtigt, immer stellt uns die Kunst unsere
Wirklichkeit vor Augen, jenseits ursprünglicher
Unversehrtheit, diesseits ersehnter Vollendung. Wo
tiefes Erleben und der Drang zum echten künstlerischen
Ausdruck die gestaltenden Hände, den Pinsel und Meißel
führen, werden Polaritäten und Spannungen offenbar, an
denen der Mensch leidet, die unsere Welt
charakterisieren. In dieser Möglichkeit, das alles
auszudrücken, liegen Größe und Bedeutung jeder Kunst,
falls sie nicht einem öden Naturalismus oder flachen
Formalismus verfällt, begründet. Vermag die Kunst aber
auch die Überwindung dieser Spannungen zu vermitteln?
Die Kunst kann auch Medium der Heilung sein, sofern der
Künstler nicht nur unsere Wirklichkeit auf ihr Wesen hin
transzendiert, sondern auch sich selbst, den Menschen
und die Welt im Lichte der in der biblischen Botschaft
geoffenbarten Wahrheit erlebt. Dann erst erhält diese
Wesenserhellung ihre Prägnanz, die Polaritäten werden
eindringlicher dargestellt; dann hat die Kunst, jenseits
von hässlich und schön, aber auch die
Ausdrucksmächtigkeit der uns von Gott zukommenden
Erlösung und Versöhnung.
Was ist also der Mensch im Lichte der Wahrheit? Ohne
Gott, nur auf sich selbst gestellt, ist er ein
"Minusmensch": satt, selbstgefällig, keiner Verwandlung
mehr fähig und daher ein abgestorbenes Wesen. Bewahrt er
sich aber seine Erlebnisfähigkeit, öffnet er sich auch;
dann erfährt er seine Erdgebundenheit, Endlichkeit und
das Gesetz des Todes. Er vernimmt den Ruf, sich
aufzurichten, und der Gegenpol seiner Existenz,
selbstloses Handeln und Geben im ungetrübten Hören und
Schauen, wird Inhalt seiner Sehnsucht. In der Wahrheit
ist aber auch Erfüllung. Diese ist schon geschehen im
Handeln und Leiden, Lieben und Sterben und Auferstehen
des gekrönten Gottessohnes. Durch ihn wird diese
Wahrheit aber auch unsere Wirklichkeit, indem der
Gebeugte sich aufrichtet und auf dem Wege zum
Mitmenschen, versöhnt mit Gott, Heilung seiner
Zerrissenheit erfährt.
Sollte man eine solche Kunst, die das eindringlich
darstellt, religiöse Kunst nennen? Ich wage das zu
bezweifeln. Denn jeder Künstler, der im Erleben die
Tiefen der Welt und des Menschen auslotet und mit
schöpferischer Ausdruckskraft in Stoff und Form
einfängt, wird, ob er will oder nicht, von diesen
letzten irrationalen Kräften alles Seienden und
Geschehens, den destruktiven, aber auch den heilenden,
gebannt.
Rika Unger nennt ihre Werke "erlebtes Bewusstsein". Man
könnte sie auch "bewusst gewordenes Erleben" nennen. Und
dass die Künstlerin dieses Erleben so und nicht anders
Gestalt werden ließ, wird für sie selbst genauso
rätselhaft sein, wie für den Betrachter die tiefe
Eindringlichkeit, mit der diese Werke ihn ansprechen. |