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Aus dem Dunklen ins Helle gezeichnet - Bildwerke von Rika Unger

Portrait von Prof. Dr. Johannes Lähnemann (em.), Nürnberg

Wer ihren künstlerischen Arbeiten begegnet, erfährt, dass ihm der Blick geöffnet wird: herausgerufen aus dem Kreisen um sich selbst, erkennt er sich im Spiegel; was ihn bedrückt, was ihn ängstigt, wo wir verschlossen sind und wo wir hoffen können. Besonders dies wird gezeigt: was uns frei macht, was uns neuen Raum schenkt; der Weg vom Ich zum Du, aus der Dunkelheit ins Helle - und in der Mitte ist immer wieder das Kreuz, um das herum Licht ausstrahlt; in die Finsternis hinein bricht es sich Bahn.

Wenn man den Weg der Künstlerin mitgeht, entdeckt man einen Pfad aufmerksamen Mit-Empfindens: durch die unsicheren Jahre nach dem zweiten Weltkrieg hindurch; durch die Zeit des "Aufbaus", durch die Zeit der Infragestellung des so Geleisteten - einen Weg, der nie der Gefahr des Triumphalismus erliegt. Es ist vielmehr ein Weg behutsamen Tastens nach immer neuen Ausdrucksformen, um über dem Kunstwerk geöffnete Augen füreinander zu gewinnen, um den Anruf der Bedrängten - menschlicher wie nichtmenschlicher Kreatur, in der uns der leidende Christus entgegentritt - nicht zu verdrängen.

Diesen Weg möchte ich ein wenig genauer nachzeichnen; dabei erfahren drei besondere Bildwerke eine etwas ausführlichere Deutung.

Begonnen hatte Rika Unger mit figürlichen Plastiken, in denen sich zum Teil noch die Erschütterungen über das Erlebte spiegelte: dass es Menschen gibt, die - in sich verschlossen - nichts aus all dem Grauen des Krieges und der Zeit danach gelernt haben; dass es aber auch aufgebrochene Existenzen gibt, die neu nach Formen mitmenschlicher Gemeinschaft suchen.

Für das Erste steht eine ihrer frühen Plastiken: eine menschliche Gestalt, gut 1 Meter hoch, aus Steinzeug gebrannt. Die Oberfläche ist um und um glatt, ja, man kann sich des Eindrucks des Aalglatten nicht erwehren: der Mensch offenbar, an dem alles abgleitet, den nichts im Innersten erschüttern kann. Augen, die nichts neues entdecken; halbgeschlossen vermögen sie nur das zu sehen, was den eigenen Wünschen gefügig zu machen ist. - Körper und Gesicht drücken Sattheit aus, und doch spürt man, dass das Ganze innerlich hohl ist, ein letztlich totes Wesen. Man möchte die Gestalt aufwecken, wachrütteln und wüsste doch: auch dann könnten die Augen nicht mitleidig blicken, die Mundwinkel sich allenfalls hämisch verziehen.

Die Plastik hat von der Künstlerin einen treffenden Namen erhalten: "Minus-Mensch"; eine Gestalt, die allen Zug zum Negativen, alle Verbohrtheit in sich selbst zusammen fasst, deren Menschen fähig sind. Eine überzeichnete Gestalt, gewiss - aber gerade damit wird überdeutlich die Versuchung dargestellt, in der wir alle stehen: dass wir uns nur erschrecken und wecken lassen, wenn es uns an den Kragen geht; - dass wir Ungerechtigkeiten, wenn sie anderen geschehen, lieber nicht mit ausbaden wollen (sind nicht die, die Unrecht tun, doch meist die Mächtigeren?); dass wir unseren Profit gut absichern, uns über fremdem Umglück aber mit ein paar Almosen beruhigen.

Der oft nur angedeutete, aber dennoch letztlich zentrale Bezugspunkt ist das, was sich zwischen Gott und Mensch ereignet hat, ereignen kann: das Aufscheinen einer anderen, alles wandelnden Wirklichkeit. Sie bleibt nicht jenseits des Menschlichen. Sie strahlt gerade durch das Auf-sich-nehmen menschlichen Gefangenseins und menschlichen Leidens hindurch.

Sichtbar wird das besonders an einer Holzrelief-Arbeit Rika Ungers - einem Kopf, in den Dimensionen dem menschlichen Antlitz gegenüber ein wenig vergrößert. Er wirkt nicht monumental oder gar überirdisch; durch die Vergrößerung scheint sich im Gegenteil das Menschliche in dem Gesicht vertieft, verdeutlicht zu haben. Die Künstlerin bezeichnet ihn als "gekröntes Haupt" - und obwohl die Dornenkrone nur durch einen gekerbten Kranz angedeutet wird und der Name Jesus nicht ausdrücklich genannt wird, ist doch unmittelbar zu sehen, dass in dieser Darstellung das ganze Teilnehmen am menschlichen Geschick, das Jesus in diese Welt brachte, versammelt ist. - Jesu Hinwendung zum Leiden, seine gegeißelte Liebe haben sich niedergeschlagen in den tiefen Furchen, von denen das Gesicht durchzogen ist.

An den Seiten ist das Haupt gleichsam eingekerkert durch Wände, so, als sollte selbst dem geschlagenen Gesicht noch jeder Wirkungskreis entzogen werden. - Aber während die Gestalt des "Minus-Menschen" den offenen, freien Raum um sich nicht nutzen, nicht ausfüllen kann, durchbricht das "gekrönte Haupt" gleichsam die Begrenzungen, die ihm gesetzt sind.

Es gibt zwar keinen Zentimeter in diesem Antlitz, der nicht vom Leiden gezeichnet, geprägt wäre, aber dennoch drückt es nicht Zerschlagenheit, Vergeblichkeit, Resignation aus. Das Gesicht strebt empor, über ihm öffnet sich der Raum, wird der Freiheit Bahn gebrochen, dringt es durch das Sterben zum Leben. Was sich hier auftut, drängt auf Mitteilung, will weitergegeben werden - "gehet hin in alle Welt ..." - Aber wie lässt sich das im Kunstwerk entfalten?

Rika Unger sucht ständig neu nach Möglichkeiten der Gestaltung: Da ist das Passions-Osterkreuz in der Versöhnungskirche in Münster. Mitten im Kruzifix ist freier Raum, strömt vom Altarfenster her Licht in Kreuzesform auf die Gemeinde zu. Da ist die von ihr entwickelte neue Art eines Kunstwerkes - die "Leuchtplastik". Das natürliche Licht einer Kerze, der warme Schein einer Laterne wird in das Innere einer Plastik mit verschiedenen Höhlungen, Öffnungen hinein genommen; aus der Enge ihres Gehäuses heraus ergreift sie langsam, aber stetig den ganzen Raum und erfüllt ihn mit ihren Lichtbahnen. In der Gefäßhaftigkeit der Plastik selbst drückt sich Ur-Menschliches aus; Das "Gebilde aus Ton" wird offen - das Licht-Schattenspiel weist hin auf den Menschen als Empfänger und Sender von Licht und Dunkel. Beispielhafte menschliche Gestalten, beispielhafte Erfahrungen und Entdeckungen des Lichts sind leitmotivistisch mit den Plastiken verbunden: "Ich denke an Janusz Korczak" oder "Wir sahen einen Stern" ist unter einzelne Plastiken geschrieben. Der Betrachter ist eingeladen, alle ihn treibende Unruhe zurückzulassen, stille zu werden, teilzunehmen an dem Geschehen und dadurch neue Lichtspuren wahr zu nehmen, für sich und für andere.

Und schließlich sind da die "Monorisse": entstanden aus dem Erleben unserer Kultursituation, in der Menschen sich oft festgefahren vorfinden unter einer Schicht technischer Perfektion (und ästhetischer Könnerschaft), deren Kehrseite nicht selten lähmende Resignation bildet. Die "Monorisse" enthalten das Aufbrechende, Aufreißende schon in der Gestaltungsform: heller Anriss im dunklen Tonpapier, in Schichten gelegt, die nicht festlegen, eröffnen sie eine neue Variation des Grundthemas der Kunst Rika Ungers, die eine unglaubliche Vielfalt der Gestaltung zulässt. Nicht zufällig, dass gerade auch behinderte junge Menschen in der Werkstatt der Künstlerin Zugang gefunden haben zu dieser Arbeitsweise mit gerissenem Papier.

"Das Licht bricht sich Bahn" - "Neue Horizonte brechen auf": diese beiden Titel für zwei der Monoriss-Reihen deuten das Dynamische der neuen Kunstform an.

Der "Monoriss 18" aus der ersten Reihe mag für viele andere stehen: Das Passions-/Osterthema ist hier neu enthüllt im Blick auf die pfingstliche Dimension - "die Kraft des Geistes". Eine rechteckige Fläche ist - in mehreren Papierschichten übereinander - von einer aufbrechenden, nach außen drängenden Mitte her gestaltet. "großes licht und kleine sonnen" nennt die Künstlerin das Bildwerk: Das große, schwarze Kreuz in der Mitte wird umflutet von einer gleißend weißen, an den Rändern sich goldgelb ausbreitenden Sonne, die ihre Leuchtkraft in ein Geflecht aus kleinen Kreuzen und grauem Webwerk schickt. Und wo sie als "kleine sonne" Gestalt gewinnt, bilden sich neue "Inseln des Lichts", die in Bewegung sind, das Dunkel in seiner scheinbaren Undurchdringlichkeit aufreißen, es mit züngelnden Flammen pfingstlichen Geistes durchsetzen. Die Verbundenheit von "großem licht" und "kleinen sonnen", von dem, der die Kraft gibt, und denen, die aus seiner Kraft heraus leben, findet die Künstlerin in dem Wort aus dem Johannesevangelium, das sie diesem "Monoriss" beistellt: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun." (Johannes 15 V. 5).

Das Werk Rika Ungers ist nicht zu Ende: Es fordert heraus zu Besinnung, Mitgestaltung und neuem Aufbruch - im Austausch mit der Künstlerin, die aus dem Gespräch heraus lebt und ihre Bildwerke formt; in eigener künstlerischer Bemühung, zu der sie ermutigt; im Weitergeben der Lichtfunken, die ihre Arbeit aussprühen, an alle die, die in "Finsternis und Schatten des Todes" wohnen.

    

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