Wer ihren künstlerischen Arbeiten begegnet, erfährt,
dass
ihm der Blick geöffnet wird: herausgerufen aus dem
Kreisen um sich selbst, erkennt er sich im Spiegel; was
ihn bedrückt, was ihn ängstigt, wo wir verschlossen sind
und wo wir hoffen können. Besonders dies wird gezeigt:
was uns frei macht, was uns neuen Raum schenkt; der Weg
vom Ich zum Du, aus der Dunkelheit ins Helle - und in
der Mitte ist immer wieder das Kreuz, um das herum Licht
ausstrahlt; in die Finsternis hinein bricht es sich
Bahn.
Wenn man den Weg der Künstlerin mitgeht, entdeckt man
einen Pfad aufmerksamen Mit-Empfindens: durch die
unsicheren Jahre nach dem zweiten Weltkrieg hindurch;
durch die Zeit des "Aufbaus", durch die Zeit der
Infragestellung des so Geleisteten - einen Weg, der nie
der Gefahr des Triumphalismus erliegt. Es ist vielmehr
ein Weg behutsamen Tastens nach immer neuen
Ausdrucksformen, um über dem Kunstwerk geöffnete Augen
füreinander zu gewinnen, um den Anruf der Bedrängten -
menschlicher wie nichtmenschlicher Kreatur, in der uns
der leidende Christus entgegentritt - nicht zu
verdrängen.
Diesen Weg möchte ich ein wenig genauer nachzeichnen;
dabei erfahren drei besondere Bildwerke eine etwas
ausführlichere Deutung.
Begonnen hatte Rika Unger mit figürlichen Plastiken, in
denen sich zum Teil noch die Erschütterungen über das
Erlebte spiegelte: dass es Menschen gibt, die - in sich
verschlossen - nichts aus all dem Grauen des Krieges und
der Zeit danach gelernt haben; dass es aber auch
aufgebrochene Existenzen gibt, die neu nach Formen
mitmenschlicher Gemeinschaft suchen.
Für das Erste steht eine ihrer frühen Plastiken: eine
menschliche Gestalt, gut 1 Meter hoch, aus Steinzeug
gebrannt. Die Oberfläche ist um und um glatt, ja, man
kann sich des Eindrucks des Aalglatten nicht erwehren:
der Mensch offenbar, an dem alles abgleitet, den nichts
im Innersten erschüttern kann. Augen, die nichts neues
entdecken; halbgeschlossen vermögen sie nur das zu
sehen, was den eigenen Wünschen gefügig zu machen ist. -
Körper und Gesicht drücken Sattheit aus, und doch spürt
man, dass das Ganze innerlich hohl ist, ein letztlich
totes Wesen. Man möchte die Gestalt aufwecken,
wachrütteln und wüsste doch: auch dann könnten die Augen
nicht mitleidig blicken, die Mundwinkel sich allenfalls
hämisch verziehen.
Die Plastik hat von der Künstlerin einen treffenden
Namen erhalten: "Minus-Mensch"; eine Gestalt, die allen
Zug zum Negativen, alle Verbohrtheit in sich selbst
zusammen fasst, deren Menschen fähig sind. Eine
überzeichnete Gestalt, gewiss - aber gerade damit wird
überdeutlich die Versuchung dargestellt, in der wir alle
stehen: dass wir uns nur erschrecken und wecken lassen,
wenn es uns an den Kragen geht; - dass wir
Ungerechtigkeiten, wenn sie anderen geschehen, lieber
nicht mit ausbaden wollen (sind nicht die, die Unrecht
tun, doch meist die Mächtigeren?); dass wir unseren
Profit gut absichern, uns über fremdem Umglück aber mit
ein paar Almosen beruhigen.
Der oft nur angedeutete, aber dennoch letztlich zentrale
Bezugspunkt ist das, was sich zwischen Gott und Mensch
ereignet hat, ereignen kann: das Aufscheinen einer
anderen, alles wandelnden Wirklichkeit. Sie bleibt nicht
jenseits des Menschlichen. Sie strahlt gerade durch das
Auf-sich-nehmen menschlichen Gefangenseins und
menschlichen Leidens hindurch.
Sichtbar wird das besonders an einer Holzrelief-Arbeit
Rika Ungers - einem Kopf, in den Dimensionen dem
menschlichen Antlitz gegenüber ein wenig vergrößert. Er
wirkt nicht monumental oder gar überirdisch; durch die
Vergrößerung scheint sich im Gegenteil das Menschliche
in dem Gesicht vertieft, verdeutlicht zu haben. Die
Künstlerin bezeichnet ihn als "gekröntes Haupt" - und
obwohl die Dornenkrone nur durch einen gekerbten Kranz
angedeutet wird und der Name Jesus nicht ausdrücklich
genannt wird, ist doch unmittelbar zu sehen, dass in
dieser Darstellung das ganze Teilnehmen am menschlichen
Geschick, das Jesus in diese Welt brachte, versammelt
ist. - Jesu Hinwendung zum Leiden, seine gegeißelte
Liebe haben sich niedergeschlagen in den tiefen Furchen,
von denen das Gesicht durchzogen ist.
An den Seiten ist das Haupt gleichsam eingekerkert durch
Wände, so, als sollte selbst dem geschlagenen Gesicht
noch jeder Wirkungskreis entzogen werden. - Aber während
die Gestalt des "Minus-Menschen" den offenen, freien
Raum um sich nicht nutzen, nicht ausfüllen kann,
durchbricht das "gekrönte Haupt" gleichsam die
Begrenzungen, die ihm gesetzt sind.
Es gibt zwar keinen Zentimeter in diesem Antlitz, der
nicht vom Leiden gezeichnet, geprägt wäre, aber dennoch
drückt es nicht Zerschlagenheit, Vergeblichkeit,
Resignation aus. Das Gesicht strebt empor, über ihm
öffnet sich der Raum, wird der Freiheit Bahn gebrochen,
dringt es durch das Sterben zum Leben. Was sich hier
auftut, drängt auf Mitteilung, will weitergegeben werden
- "gehet hin in alle Welt ..." - Aber wie lässt sich das
im Kunstwerk entfalten?
Rika Unger sucht ständig neu nach Möglichkeiten der
Gestaltung: Da ist das Passions-Osterkreuz in der
Versöhnungskirche in Münster. Mitten im Kruzifix ist
freier Raum, strömt vom Altarfenster her Licht in
Kreuzesform auf die Gemeinde zu. Da ist die von ihr
entwickelte neue Art eines Kunstwerkes - die
"Leuchtplastik". Das natürliche Licht einer Kerze, der
warme Schein einer Laterne wird in das Innere einer
Plastik mit verschiedenen Höhlungen, Öffnungen hinein
genommen; aus der Enge ihres Gehäuses heraus ergreift
sie langsam, aber stetig den ganzen Raum und erfüllt ihn
mit ihren Lichtbahnen. In der Gefäßhaftigkeit der
Plastik selbst drückt sich Ur-Menschliches aus; Das
"Gebilde aus Ton" wird offen - das Licht-Schattenspiel
weist hin auf den Menschen als Empfänger und Sender von
Licht und Dunkel. Beispielhafte menschliche Gestalten,
beispielhafte Erfahrungen und Entdeckungen des Lichts
sind leitmotivistisch mit den Plastiken verbunden: "Ich
denke an Janusz Korczak" oder "Wir sahen einen Stern"
ist unter einzelne Plastiken geschrieben. Der Betrachter
ist eingeladen, alle ihn treibende Unruhe
zurückzulassen, stille zu werden, teilzunehmen an dem
Geschehen und dadurch neue Lichtspuren wahr zu nehmen,
für sich und für andere.
Und schließlich sind da die "Monorisse": entstanden aus
dem Erleben unserer Kultursituation, in der Menschen
sich oft festgefahren vorfinden unter einer Schicht
technischer Perfektion (und ästhetischer Könnerschaft),
deren Kehrseite nicht selten lähmende Resignation
bildet. Die "Monorisse" enthalten das Aufbrechende,
Aufreißende schon in der Gestaltungsform: heller Anriss
im dunklen Tonpapier, in Schichten gelegt, die nicht
festlegen, eröffnen sie eine neue Variation des
Grundthemas der Kunst Rika Ungers, die eine unglaubliche
Vielfalt der Gestaltung zulässt. Nicht zufällig, dass
gerade auch behinderte junge Menschen in der Werkstatt
der Künstlerin Zugang gefunden haben zu dieser
Arbeitsweise mit gerissenem Papier.
"Das Licht bricht sich Bahn" - "Neue Horizonte brechen
auf": diese beiden Titel für zwei der Monoriss-Reihen
deuten das Dynamische der neuen Kunstform an.
Der "Monoriss 18" aus der ersten Reihe mag für viele
andere stehen: Das Passions-/Osterthema ist hier neu
enthüllt im Blick auf die pfingstliche Dimension - "die
Kraft des Geistes". Eine rechteckige Fläche ist - in
mehreren Papierschichten übereinander - von einer
aufbrechenden, nach außen drängenden Mitte her
gestaltet. "großes licht und kleine sonnen" nennt die
Künstlerin das Bildwerk: Das große, schwarze Kreuz in
der Mitte wird umflutet von einer gleißend weißen, an
den Rändern sich goldgelb ausbreitenden Sonne, die ihre
Leuchtkraft in ein Geflecht aus kleinen Kreuzen und
grauem Webwerk schickt. Und wo sie als "kleine sonne"
Gestalt gewinnt, bilden sich neue "Inseln des Lichts",
die in Bewegung sind, das Dunkel in seiner scheinbaren
Undurchdringlichkeit aufreißen, es mit züngelnden
Flammen pfingstlichen Geistes durchsetzen. Die
Verbundenheit von "großem licht" und "kleinen sonnen",
von dem, der die Kraft gibt, und denen, die aus seiner
Kraft heraus leben, findet die Künstlerin in dem Wort
aus dem Johannesevangelium, das sie diesem "Monoriss"
beistellt: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.
Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel
Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun." (Johannes
15 V. 5).
Das Werk Rika Ungers ist nicht zu Ende: Es fordert
heraus zu Besinnung, Mitgestaltung und neuem Aufbruch -
im Austausch mit der Künstlerin, die aus dem Gespräch
heraus lebt und ihre Bildwerke formt; in eigener
künstlerischer Bemühung, zu der sie ermutigt; im
Weitergeben der Lichtfunken, die ihre Arbeit aussprühen,
an alle die, die in "Finsternis und Schatten des Todes"
wohnen. |