"Wenn wir ohne Schwierigkeiten den Sinn und die Logik
eines Musikwerkes erfassen, dann deshalb, weil sich
dieses Werk auf die Gesetze von Harmonie und Komposition
gründet, von denen wir entweder ein erworbenes oder
ererbtes Wissen haben... Die Gesetze dieses neuen
Gebietes sind noch kaum formuliert, doch werden sie
zunehmend deutlicher, wie auch die musikalischen Gesetze
immer deutlicher werden, und sie werden sehr rasch
ebenso verständlich sein wie die gegenständlichen
Darstellungen der Natur." Picabia erhob diesen Anspruch
für die Kunst nicht nur durch die Behauptung einer
Analogie zwischen Malerei und Musik, sondern auch in dem
er betonte, dass die Regeln der Malerei nicht weniger
als die der Musik gelernt werden müssen.
Für Rika Unter waren die Farbseminare bei Dr. Frieling
wie das Erlernen eines Regelwerkes, so dass sich für sie
das Geistige in der Kunst zu öffnen begann und eine
kosmische Metaphorik sich ihr entschlüsselte. Nigel
Pennick charakterisierte 1980 die beständige
Anziehungskraft geometrischer Figuren so: "... sie ist
unauflösbar verbunden mit verschiedenen mystischen
Lehren... so behandelt die allgültige, heilige Geometrie
nicht nur die Proportionen üblicher, mit Lineal und
Zirkel konstruierter geometrischer Figuren, sondern auch
die harmonischen Verhältnisse der Teile des Menschen
zueinander, die Strukturen von Pflanzen und Tieren, die
Formen von Kristallen und Naturobjekten, die alle
Manifestationen des universalen Zusammenhangs sind seit
Urzeiten an."
In den Monorissen von Rika Unger ist es nicht leicht,
ihre Beziehung zu alten und neuen Richtungen
meditativer, spiritueller Bedeutung nachzuweisen. Der
Betrachter muss sein oberflächliches Denken an Jetzt und
Heute, der Vordergründigkeit des Alltags aufgeben, wenn
er dem Weg zu den Quellen der Ideen zu den Monorissen
der Künstlerin folgen will. Die Quelle ihrer Iden, die
metaphysischen, religiösen Schlüsse, die sie in den
Reichtum der modernen abstrakten Farbausdrücke
inkorporiert, werden entzifferbar, als wenn es sich um
eine fremde Sprache handle, im aktiven Miteinander und
Gegeneinander des schaffenden Künstlers und
betrachtenden Meditierenden.
Rika Unger sagt über sich, dass Studienfahrten nach
Burgund, in die Bretagne, nach Italien, Holland und
Frankreich, aber insbesondere nach Griechenland, Kreta
und Malta ihr Einblick schenkten in den gewaltigen Strom
schöpferischer Äußerungen der Menschen, der zurück
reicht bis 20.000 vor Christi und sich fortsetzt bis zum
heutigen Tage und immer neue Gestalt hervorbringt und
somit das sich wandelnde menschliche Bewusstsein
spiegelt. Diesem Strom fühle ich mich angeschlossen.
Daraus wuchs mein Weg, auf dem ich noch bin und weiter
gehen werde. Kann man den Gegensatz zwischen einer
oberen und einer unteren Sphäre, dem Geistigen und dem
Physischen, verfolgen, so wird die von Rika Unger
gewählte Bezeichnung "Monorisse" erklärbar, denn für sie
haben sie ihren Ursprung da, wo Risse und Spalten als
Prozess von Absterben und Aufbrechen gesehen und erlebt
werden müssen. Die Reihe ihrer Monorisse gliedert sich
in einzelne Abschnitte, deren Kapiteltitel spirituell
metaphysische Schlüssel sind, wie das Licht bricht sich
Bahn, Lichtblick im Verhüllungsbereich, neue Horizonte
brechen auf und du und ich.
Plastik kann auch Rand für Raum sein, wie Henry Moore zu
seinen Arbeiten ausführte und von Rika Unger übernommen
wurde. Die "Wegzeichen" stellen sich mit ihrer Bedeutung
tatsächlich in den Weg; in den Lebensweg wie bei Janusz
Korczak, an dessen Martyrium, seiner freiwilligen
Entscheidung, die Kinder in die Gaskammer zu begleiten,
sie sich orientierte. So kann Rika Unger das Zeitliche
in den Bezug zum Ewigen stellen und dem Glauben Stärke
abverlangen. Ihre meditativen Plastiken stehen aufrecht
und nehmen horizontale Bezüge auf, um mit den
Betrachtern in Kommunikation zu treten. Ihre bewußte
Konstruktion nach den Koordinaten des Raumes bleibt bei
aller Bewegung des Äußeren spürbar. Die Form ist in sich
beweglich, in Fluss gesetzt. Beginnt der Betrachter mit
der Detailstudie, so nimmt die gesamte Plastik neue
Gestalt an, sie öffnet sich wie der Makrokosmos zum
Kleinsten hin. Das Lebens- und Wachstumselement wird
vorherrschbar. Daneben werden Erfahrungen von Starrheit
und Tod im Umgang mit den gefäßhaften Leuchtplastiken
für den Betrachter gegenwärtig, der dann in einer
Licht-Schatten-Performance im dunklen, leeren Raum zu
dem Erleben geführt wird, welche Veränderung durch Licht
und Dunkelheit bewirkt wird. Letztlich bieten Rika
Ungers Plastiken dem Betrachter die Gelegenheit,
Perspektiven, die über die Gebundenheit an den Kreislauf
des Lebens hinausgehen, wahrzunehmen. |